Am 4. November jährt sich der Beginn des Matrosenaufstandes in Kiel, zugleich der Auftakt zur Deutschen Revolution, zum 99. Mal. Der folgende Beitrag bietet Lesern einen schnellen Überblick über die historischen Geschehnisse, um dann zu einer zusammenfassenden Analyse zu kommen. Die Revolution ist ohne die Kriegspolitik des Deutschen Reiches nicht zu verstehen, und insofern beginnt die Geschichte mit dem Ersten Weltkrieg.
Der Erste Weltkrieg
Der Jubel der Augusttage verklingt in wenigen Wochen. An Weihnachten 1914 haben europaweit bereits 1.750.000 Männer auf den Schlachtfeldern Ostpreußens, Flanderns und an der Marne ihr Leben gelassen. Nicht nur dem deutschen Generalsstabschef von Falkenhayn ist klar, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist: „Wir haben den Krieg gewonnen, wenn wir ihn nicht verlieren“.
Entsprechend findet sich ab 1915 in Feldbriefen, Todesnachrichten und Nachbarschaftsgesprächen die Meinung, dieser Krieg müsse durch Verständigung beendet werden. Wer heute über Land fährt und die Ehrenmale des Ersten Weltkrieges aufmerksam studiert, wird bemerken, dass mancherorts wohl der größte Teil der wehrfähigen Population des Dorfes dahin geschlachtet wurde. Auch der alte, preußische Militäradel ist bereits 1915 physisch liquidiert.
Im Deutschen Reich herrscht der Ausnahmezustand, Militärgouverneure zensieren die Presse, verbieten Versammlungen und drangsalieren Arbeitende und Bevölkerung über das bisher gekannte Maß. Schon der Frieden war für Arbeiter Fron. Niedrige Löhne und schlechte Behandlung kennzeichnen ihren Alltag. Im Frühjahr 1916 beginnt der Hunger – bis Kriegende sterben über eine halbe Million Menschen im Deutschen Reich an Unterernährung, Erschöpfung und Entkräftung. Zunehmend breitet sich Kriegsmüdigkeit und Erschöpfung aus – übrigens in allen am Krieg beteiligten Ländern, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Im August 1916 wird Ludendorff Militärdiktator zur Fortführung des Krieges. Er verspricht, den Krieg siegreich zu beenden (Siegfrieden). Die soziale Basis der Diktatur bilden die Reste der Adelsherrschaft (inklusive Verwaltung, Gerichte, Universitäten), die am Krieg prächtig verdienenden industriellen Unternehmer (in deren Familien übrigens auch nicht gehungert wird) und die Großgrundbesitzer. Diese Leute haben bereits mächtig in den Krieg investiert, der auch teurer wird. Kostet im Jahr 1915 ein Tag Kriegsführung 100 Millionen Reichsmark so sind es 1918 160 Millionen. Bis 1916 sind fast 50 Milliarden Goldmark in Kriegsanleihen gezeichnet (das entspricht nach heutiger Kaufkraft etwa dem 20fachen in Euro, also tausend Milliarden). Die Besitzenden tun nach eigenem Gusto nicht nur Gutes für das Land, sondern auch für den eigenen Geldbeutel. Die Kriegsanleihen, so ist den Investoren klar, können nur rentieren, wenn Deutschland den Krieg gewinnt. Dies wird zum mächtigsten Treiber bei den führenden Klassen zur Fortführung des Krieges. Hinzu kommt das neue Offizierskorps, das sich deutlich stärker als das alte preußische durch eine aufgesetzte Arroganz und Überheblichkeit hervor tut. Ein praktischer Nihilismus bildet sich dort heraus, antidemokratisch, aber nicht mehr monarchistisch; die Brut des Protofaschismus. Die Untergebenen werden verächtlich gemacht, „schlimmer als Vieh“ behandelt, und es wird ihnen die Fähigkeit abgesprochen, eigene Gedanken zu haben. Deshalb wird jede Widerstandsregung vorgeblich „spartakistischer“ Agitation zugeschrieben. Diese gibt es aber in der vorgestellten Wirkung gar nicht. Zum Einen werden derartige Bestrebungen, wo sie denn öffentlich werden, brutal unterdrückt und zum Zweiten zeigt sich der Widerstand in nicht wirklich zu unterdrückenden Handlungen, wie etwa verlängerten Krankenzeiten.
So findet bei den Soldaten eine Abstimmung gegen den Krieg mit dem Kopf und den Füßen statt. Es entsteht eine Bewegung, in der immer mehr Soldaten aus der Etappe nicht an die Front zurückkehren, sondern im Deutschen Reich untertauchen. Sind es 1916 noch 100.000, so werden es 1918 über eine Million Männer sein. Auch das lastet Ludendorff, schon im Modus totaler Propaganda, den „Spartakisten“ an. Offene und verdeckte Kampfstreiks finden in allen Armeen der kriegführenden Länder statt und sind als Thema der Kommunikation tabuisiert. Offene Kampfstreiks gibt es in Frankreich, wo die Zahl der Gefallenen Anfang 1917 fast eine Million Mann erreicht und die Heeresführung einen Kompromiss mit den streikenden Soldaten eingeht: nur noch diejenigen Befehle sind zu befolgen, die die Soldaten bereit sind auszuführen (also keine mörderischen Offensiven mit hunderttausenden von toten Soldaten). In Italien stehen in der 12. Isonzoschlacht den 10.000 Gefallenen und 60.000 Verwundeten 580.000 Soldaten gegenüber, die in Gefangenschaft gehen. Verdeckt finden sich Kampfstreiks bei den deutschen, englischen und russischen Truppen. In Russland geht die Regierung mit Waffengewalt gegen die Streiks vor und verwandelt folgerichtig so die Meutereien in eine Revolution.
Im Jahr 1917 entstehen wieder eine parlamentarische und eine außerparlamentarische Opposition. Eine USPD sich spaltet mit der Verweigerung, weiteren Kriegskrediten zuzustimmen, von der SPD ab. Matthias Erzberger, Führer der Partei der katholischen Minderheit, „Zentrum“ ist gut über die militärische Lage informiert und zutiefst pessimistisch, was den Ausgang des Krieges angeht. In einer großartigen Rede begründet er eine parlamentarische Initiative von Zentrum, SPD und Fortschrittspartei (Linksliberale) für einen Verhandlungsfrieden. Jetzt war die Stunde der Entscheidung gekommen, und gemeinsam mit dem Reichskanzler Bethmann Hollweg, der zwischen den Positionen Sieg- und Verständigungsfrieden lavierte, wäre es möglich, Ludendorff abzusetzen und mit einem neuen Generalstabschef einen Friedensschluss anzusteuern. Die Parteien können sich aber nicht in letzter Konsequenz von der Reichskriegspolitik lösen. Sie begreifen nicht, dass es Frieden nur mit dem Griff nach der Macht geben kann. So lässt man sich von Ludendorff ausspielen. Bethmann Hollweg tritt zurück; Ludendorff eskaliert den Krieg.
In der Kriegsmarine kommt es zu Protesten der Matrosen wegen grottenschlechter Verpflegung (die auf den großen Schiffen bei den Mannschaften bedeutend schlechter ist als bei den Offizieren), wegen verweigerter Landurlaube und schikanöser Behandlung. Die Soldaten waren im Großen und Ganzen bereit, mit dem führenden Personal zu kämpfen. Wo es aber sichtbar, wie bei der Kriegsmarine riesige Versorgungsunterschiede gibt, sind die Matrosen nicht bereit, das hinzunehmen. Es gibt hundertfache demonstrative Eintritte ganzer Schiffsbesatzungen in die USPD. Die Proteste werden per Justizmord niedergeschlagen. Die Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch werden am 5. September 1917 hingerichtet. An der schlechten Versorgungslage der Marinesoldaten ändert sich nichts. Auch unter den Arbeitern greift die Überzeugung um sich, dass nur sie bluten und hungern, während es sich die führenden Klassen gut gehen lassen und den Siegfrieden predigen. Max Weber rechnet – leider zu spät – in einem Vortrag 1919 unter dem Titel „Politik als Beruf“ mit dieser „Gesinnungsethik“ sehr gründlich ab. In der Industrie kommt es zu materiell wirkungslosen aber symbolisch bedeutsamen Streiks gegen den Krieg, die ebenfalls brutalstmöglich (Einziehen zum Militär, Haftstrafen) unterdrückt werden.
Im Frühjahr 1918 befiehlt Ludendorff neue Offensiven, die zunächst erfolgreich verlaufen. Es gelingt, die gegnerische Front zu überrollen. Als die Soldaten auf die reichlich gefüllten Vorratslager und Weinvorräte jenseits der Front stoßen, deckt man sich mit lange entbehrten Vorräten ein. Im Herbst allerdings führt die Erinnerung an die gute Versorgung der gegnerischen Streitkräfte zu einer verstärkten Demoralisierung. Angesichts der massiven Diskrepanz in der Versorgungslage wird nun glasklar, dass der Krieg verloren ist. In den letzten Offensiven hat Ludendorff nicht nur noch einmal hunderttausende deutsche Männer auf dem Schlachtfeld geopfert, sondern auch jegliche militärische Reserve verbraucht. Ab dem Sommer 1918 geht es nur noch rückwärts, die Fronten bröckeln und der Kampfwille der deutschen Soldaten geht rasant zurück. Die Niederlage wird unabwendbar.
In der letzten Septemberwoche beginnt Ludendorff, die Handhabung der Niederlage zu planen. Um die Existenz des Heeres militärisch zu retten, braucht er den Waffenstillstand. Die Initiative dazu darf aber nicht von der Militärführung ausgehen, um deren „Ehre“ (schließlich hatte Ludendorff versprochen, den Krieg zu gewinnen) und um sie politisch zu retten. Das Waffenstillstandsgesuch soll von der Regierung kommen. Aber es darf nicht die Regierung der Kriegspolitik sein, denn das wäre das Eingeständnis, dass die führenden Klassen den Krieg verloren haben. Vielmehr ist ein deutlicher Seitenwechsel nötig, der das Heer und den Kaiser nicht in den Zusammenhang des Waffenstillstandsgesuchs stellt, sondern die Niederlage auf die Verhandlungsfriedensleute abwälzt. Am 29. September 1918 bespricht Ludendorff die Sache mit dem Kaiser. Ludendorff meint: Nun sollen diejenigen, die die Suppe eingebrockt haben, sie auch essen. Ganz Propagandist der ersten Stunde behauptet Ludendorff, das seien die Politiker, die einen Verhandlungsfrieden angestrebt und so den deutschen Kampfgeist untergraben haben. Am 1. Oktober ist das Parlament informiert und eine neue Regierung, in die der Sozialdemokrat Scheidemann eintritt, wird gebildet. Kanzler wird der liberalste Prinz Deutschlands: Max von Baden. Die SPD sagt an keiner Stelle, dass das Waffenstillstandsgesuch aus der militärischen Führung kommt, sondern behauptet stets, es wäre eine Initiative der politischen Führung. Damit stellt sie sich noch in der Niederlage ganz in die Kontinuität der Kriegspolitik von 1914, denn das politische Kalkül bestand darin, die gegnerischen Mächte in Unkenntnis zu lassen, dass die Oberste Heeresleitung den Krieg verloren gegeben hat. Und gleichzeitig glaubt man in der SPD, nun hätte etwas ganz Neues begonnen – mit einer Lüge? Gibt es einen schrecklicheren politischen Selbstbetrug, der dann folgerichtig in die Dolchstoßlegende mündet? Nach dieser sind die Sozialdemokraten dem siegreichen Heer in den Rücken gefallen und haben es per Dolchstoß am Sieg gehindert.
Am 5. Oktober erfährt die Bevölkerung, dass sie eine neue Regierung hat und wird schlagartig tief gespalten. Die arbeitenden Klassen atmen auf: Endlich Friede. Die führenden Klassen sind empört über den „Verrat der SPD“, der ihnen die Niederlage bringt. Sie und zeitgleich nun auch wieder Ludendorff finden es richtig, den Krieg weiter zu führen. Der von ihm erwartete rasche Zusammenbruch der Westfront bleibt aus und schon ist er wieder der unbesiegbare Heros, der den Kampfeswillen des deutschen Heeres gegen die kapitulationswillige Regierung spielt. Parallel läuft im Militär und in der Öffentlichkeit eine Kampagne für die Fortführung des Krieges. Neben den materiellen Verlierern, wie Kriegsanleihezeichnern werden vor allem rechte evangelische Pfarrer und konservative Frauenverbände aktiv. Vorschläge zur Wiedererrichtung der Diktatur kursieren, um den Krieg weiter zu führen. Auch Ludendorff ist ganz der Meinung, nur er könne einen erträglichen Frieden aushandeln. Hier ist der Plan zum Auslaufen der Flotte einzubetten. Dieser Erwartungshorizont stürzt ein, als die Marinesoldaten den Gehorsam verweigern, weil sie die Befehle der Marineführung als Putsch gegen die Regierung sehen müssen.
Von den Kampfstreiks zur Revolution
Am 29.10.1918 um 20 Uhr werden alle Marineverbandschefs auf das Flaggschiff des Flottenchefs befohlen, um sie über den für den nächsten Tag vorgesehenen Flottenvorstoß in den Ärmelkanal zu unterrichten. Um 22 Uhr beginnt der Matrosenaufstand, der sich bereits in den Tagen zuvor mit vereinzelten Befehlsverweigerungen angekündigt hatte, auf der „Thüringen“ und der „Helgoland“. Die Stoker (Heizer) reißen die Feuer aus den Kesseln. Die Flotte ist lahm gelegt. Um 24 Uhr wird das Vorhaben abgeblasen. Am 30. Oktober ergeht ein Aufruf der Flottenleitung an die Besatzungen, in dem jede Angriffsabsicht geleugnet wird. Am 31.10. wird das dritte Geschwader nach Kiel verlegt, und es werden 600 Matrosen in Wilhelmshaven verhaftet (die später ebenfalls befreit werden). Auf der Fahrt durch den Kanal werden weitere 47 Matrosen verhaftet und vor der Ankunft in Kiel am 1. November in Arrestanstalten verbracht. Nach der Ankunft am Abend in Kiel gibt es Landurlaub, den 250 Matrosen nutzen, um sich in der Nacht im Gewerkschaftshaus zu treffen und die Befreiung der Kameraden zu beraten. Diese waren von den härtesten Strafen bedroht (auf Meuterei stand die Todesstrafe oder lange Zuchthausstrafen). Es gilt noch das Kriegsrecht, und der Belagerungszustand wird in Kiel vom Militärgouverneur Souchon exekutiert. Die Matrosen beschließen, sich am nächsten Nachmittag wieder zu treffen und weiter zu beraten. Offensichtlich sind Polizeispitzel bei der Versammlung anwesend, denn am nächsten Tag hat die Polizei das Gewerkschaftshaus abgesperrt. So ziehen die mittlerweile 600 Marinesoldaten am Abend des 2. November zum Viehburger Gehölz auf den dortigen Exerzierplatz. Dort spricht Karl Artelt, der 1917 auf der Germaniawerft in Kiel mit gestreikt hat, erst sechs Monate im Gefängnis gesessen hat und dann zur Kriegsmarine eingezogen wurde. Er ist der erste, der die Revolution fordert, Abschaffung der Monarchie, Sturz und Entmachtung der herrschenden Klassen. Eine Kompanie Marinesoldaten, die die Versammelten verhaften soll, hört interessiert zu und zieht wieder ab, um die Nachricht von der Revolution zu verbreiten. Nun treffen auch Leute von der USPD ein, es wird gemeinsam beraten und beschlossen, am nächsten Tag die Matrosen und die Arbeiter der Kieler Betriebe zu einer großen Volksversammlung um 17.30 aufzurufen. Auf den Druckmaschinen der USPD werden in der Nacht Flugblätter gedruckt. Der Militärgouverneur telegraphiert am Morgen des 3. November nach Berlin und bittet um die Entsendung eines sozialdemokratischen Abgeordneten, „um im Sinne der Vermeidung von Revolution zu sprechen“. Nachmittags um 16 Uhr wird Stadtalarm ausgelöst, die Matrosen sollen auf die Schiffe zurückkehren und nicht an der großen Versammlung teilnehmen. Tausende Matrosen ignorieren den Alarm und gehen zum Viehburger Exerzierplatz, wo sich über 6.000 Menschen versammeln. Karl Artelt ruft zu einer Demonstration in die Innenstadt auf. An der Waldwiese schließen sich einige Soldaten der dort einquartierten Marinesoldaten an, die Menge bewaffnet sich. Am Bahnhof trifft man auf eine weitere Kompanie, die im Handgemenge entwaffnet wird, wiederum schließt sich ein Teil an. Nun geht es in Richtung Arresthaus weiter. In der Carlstraße eröffnet ein Rekrutenzug das Pistolen- und Gewehrfeuer auf den Demonstrationszug. Sieben Menschen werden getötet, 14 Arbeiter und 15 Marinesoldaten werden mit Schussverletzungen ins Lazarett gebracht. Das sind die Startschüsse zur Revolution.
Am Morgen des 4. November läuft die Revolution los, die Matrosen bewaffnen sich, nahezu alle Waffenkammern werden ausgenommen. Auf den Schiffen werden Soldatenräte gewählt, die Reichskriegsmarineflagge wird eingeholt, die rote Fahne gehisst, in einigen Betrieben werden Arbeiterräte gewählt. Am Mittag sind 20.000 Gewehre und vier Maschinengewehre in der Hand der Aufständischen, es gibt keine Truppen mehr, die zum Niederschlagen der Revolution bereit wären. Nur vereinzelt schießen Offiziere aus ihren Stadtwohnungen auf Matrosen. Um 15 Uhr kommen Karl Artelt und andere mit einer roten Fahne beim Militärgouverneur an. Sie stellen sich als Soldatenrat vor, formulieren einige Forderungen, darunter die nach der Freilassung der Kameraden. Um seinen Worten etwas Nachdruck zu verleihen, bietet Karl Artelt an, mit dem dritten Geschwader Düsternbrook zu beschießen, falls Souchon nicht akzeptiert.
Um 19.30 kommt der Sozialdemokrat Gustav Noske am Kieler Hauptbahnhof an, wird von jubelnden Menschen empfangen, die ihn zum Wilhelmplatz begleiten, wo er tausende Arbeiter und Soldaten aufruft, „Ordnung zu bewahren“. Kaum jemand bringt soviel politische Erfahrung mit, um zu erkennen, dass es sich dabei um die alte Ordnung handelte, mit der die Sozialdemokraten schon früh ihren Frieden gemacht hatten.
Im Gewerkschaftshaus treffen sich die 40 gewählten Soldatenräte und sechs Arbeiterräte, um einen gemeinsamen Arbeiter- und Soldatenrat zu konstituieren. Spät am Abend werden die 14 Kieler Punkte formuliert sein. Am 7. November wird Noske Gouverneur in Kiel, der Belagerungszustand wird erst am 9. November reichsweit aufgehoben. Noske bleibt bis zum 6. Januar in Kiel und liefert hier im Dezember sein Gesellenstück ab: die Rückgabe der Macht der Soldatenräte an die Offiziere. Interessanterweise machen die Matrosen die Erfahrung, dass sie sehr wohl in der Lage sind, große Schiffe eigenständig zu führen. Und wenn man komplexe Destruktionsmaschinen hantieren kann, so ist es auch möglich, komplexe Produktionsmaschinen, sprich Fabriken zu dirigieren. Noske belügt die Matrosen, indem er behauptete, dass die Engländer es zur Bedingung der Friedensverhandlungen gemacht hätten, dass Offiziere die Schiffe zu führen hätten. Davon war nie die Rede.
Von Kiel aus breitet sich die Revolution aus, überall werden Arbeiter- und Soldatenräte gegründet, die die örtlichen Statthalter der Militärdiktatur entmachten: am 5. November ist die Revolution in Hamburg, am 6. in Bremen und am 7. in München. Ein reges politisches Leben beginnt. Man debattiert über die Zukunft des Landes und hat dabei klar, dass die Lage auf Messers Schneide steht. Noch ist das Militär paralysiert, aber die bewaffnete und republikfeindliche Soldateska hat sich nur überall im Land verkrochen. Jetzt kommt alles darauf an, der Republik jene Gewaltmittel in die Hand zu geben, die sie vor diesen zum Putsch bereiten Bewaffneten schützen kann. Das gerät leicht aus dem Fokus der Debatten, in denen sich überwiegend um Rätedemokratie versus Parlamentarische Demokratie gestritten wird. Und zugleich sind diese Debatten nötig, weil es ja um die Frage geht, was nach der Gewaltherrschaft kommt und wie die Arbeiter und Soldaten zu den neuen führenden Klassen der Zukunft werden können. Diese Debatten in der Öffentlichkeit zu führen, ist neben der Entmachtung der Statthalter der Militärdiktatur die zentrale Aufgabe der Räte. Der SPD ist das alles nicht recht. Ebert hasst die Revolution. Die Räte werden nicht als Schutzorgane der Republik, die sie ja faktisch sind, gesehen, sondern als sozialistischer Teufelsspuk, der zu verschwinden hat.
Von der Revolution zur Gegenrevolution
In der Folge führt die Politik der SPD, die mit den Namen Ebert, Scheidemann, Wels und Noske verbunden ist, das Land in finsterste Abgründe. Bereits im Dezember wird von der SPD der Bürgerkrieg vorbereitet, allerdings nicht gegen die Republikfeinde, sondern gegen ihre Verteidiger. Der Stellvertreter des Berliner Stadtkommandanten Wels sagt 1920 schriftlich aus, dass seine Behörde ab November 1918 damit beschäftigt gewesen ist, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht „bei Tag und Nacht aufzustöbern und zu jagen, so daß sie weder zu einer agitatorischen noch organisatorischen Tätigkeit kommen“. Noske, eher Frühfaschist als Sozialdemokrat, ordnet im Januar an, den Telefonanschluss von Liebknecht zu überwachen und alle seine Bewegungen an Hauptmann Papst zu melden. Dieser wird dann der Leiter des Mordkommandos, welches Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht umbringt. Scheidemann setzt ein Kopfgeld von je 50.000 Mark auf die beiden aus, finanziert von einem mit Scheidemann befreundeten Kriegsmillionär, und in der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember dringen Freikorpssoldaten in die Redaktion der „Roten Fahne“ ein, um Liebknecht umzubringen. In Berlin werden Plakate gehängt: „Arbeiter, Bürger! Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Rettet es! Es wird bedroht nicht von außen, sondern von innen von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht!“.
Einige bewaffnete Matrosen haben sich in republikfreundlichen Verbänden zusammengetan, um die Revolution zu schützen. In Berlin sind in der Volksmarinedivision 3.000 Marinesoldaten organisiert, die bereit sind, die Revolution zu verteidigen. Diese werden von der Regierung notorisch schlecht behandelt, räumlich rumgeschubst und unregelmäßig, wenn überhaupt bezahlt. Ganz anders ergeht es den von Noske ab Januar 1918 angeworbenen Freikorps, praktisch private Söldnertruppen. Diese werden stets pünktlich und großzügig bezahlt und bestens versorgt.
Die Freikorps sollen nach Noskes Vorstellungen mit Artillerie, Panzerwagen und Maschinengewehren den Arbeiterräten den Garaus machen. Allein im März 1919 werden nach Noskes Aussagen 1.200 Arbeiter und Soldaten in Berlin von Freikorps ermordet. Die Kämpfe selbst sind eher kurz, die Massaker finden danach statt. Arbeiter werden auf offener Straße einfach abgeknallt. Eine Gruppe von republiktreuen Soldaten wird in der Löhnungsstelle gestellt, 30 Leute der Volksmarinedivision werden heraus gegriffen, an die Wand gestellt und erschossen. Die von der SPD bestellten Mörder terrorisieren die arbeitende Bevölkerung, wobei die sadistischen Taten nach den eigentlichen Gefechten eine Brutalität und Grausamkeit zeigen, die ihres gleichen sucht. In einem Lied der Brigade Ehrhardt wird dieses und noch mehr deutlich.
„Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band,
die Brigade Ehrhardt werden wir genannt.
Die Brigade Ehrhardt schlägt alles kurz und klein,
wehe Dir, wehe Dir, du Arbeiterschwein.“
Mitte 1919 hat die SPD der Gegenrevolution alle Gewaltmittel ausgeliefert. Der Revolution ist das Genick gebrochen.
Die Revolution erhebt sich ein weiteres Mal 1920. Mit dem Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrages ist das deutsche Heer auf 100.000 Mann zu begrenzen. Die Reichswehr war aber noch 400.000 Mann stark, von denen nun 300.000 zu entlassen waren. Für die Freikorps bedeutete das das sofortige Aus. Die drohende Auflösung der als besonders zuverlässig geltenden Mörderbande Ehrhardt dient dann als Anlass zum sogenannten Kapp-Putsch, der allerdings ein Militärputsch des Generals Lüttwitz ist; die zivile Seite wird in der Berliner Regierung von Kapp besetzt. Der Putsch wird von den Arbeitern mit einem Generalstreik beantwortet und mit effektiver Gegengewalt. Nur im Ruhrgebiet gelingt es einer rasch zusammengestellten Roten Armee die Putschisten, auch militärisch zurückzuschlagen. Das hängt damit zusammen, dass der gesamte Bergbau sich in den Händen von Arbeiterräten befindet. Diese sind organisationsfähig und schaffen es tatsächlich, eine Armee gegen die rechten Schlächter aus dem Boden zu stampfen. Der Putsch war schnell zu Ende, weil nichts lief, kein Telefonat, keine Post, keine Verkehrsmittel usw. Die Putschisten kommen straffrei davon, die SPD lässt die Rote Armee dann, um vieles verstärkt, von den gleichen Regimentern zusammenschießen, die vorher geputscht hatten. Man fragt sich doch, was die 20 Prozent der Wähler, die bei den anschließenden Neuwahlen im Juni noch SPD gewählt haben, zu dieser Entscheidung bewogen haben mag.
Ich habe auf die Darstellung der organisierten Politik der Linken verzichtet. Diese gehört in einen erweiterten Rahmen, zumal sie mit den Anfangstagen der Revolution erst geboren wird. Zum hundertsten Jahrestag sollte dies geleistet werden. Eine erste Orientierung bietet das 1963 erschienene Buch „Stillborn Revolution“ von Werner T. Angress. Zu den Arbeiterräten im Bergbau, deren Bemühungen um Sozialisierung der Monopolbetriebe und wie sie von der SPD kaltgestellt werden: Peter von Oertzen: Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919.
Wer die Revolution nicht machen will, muss die Gegenrevolution erleiden
Die von Kiel ausgehende Revolte gegen die alten Mächte des Reiches hatte wohl das Potential, eine Revolution zu werden. Nur welche Revolution wollten die Soldaten und Arbeiter, als sie die Statthalter der Militärdiktatur erst in Kiel und dann im ganzen Deutschen Reich absetzten und an ihre Stelle Arbeiter- und Soldatenräte setzten? Sie wollten zuerst ein Ende des Krieges. Die Marinesoldaten hatten in Wilhelmshaven erfolgreich das geplante Auslaufen der Kriegsflotte verhindert und damit die von der Marineführung beabsichtigte Fortführung des Krieges unterbunden. Zugleich war dann mit der Einsetzung der Arbeiter- und Soldatenräte praktisch die Herrschaft der Militärdiktatur gebrochen. Das bedeutete zugleich Sturz der Monarchie, denn es hieß kaiserliches Heer. Wenn der Kaiser kein Heer mehr hatte, weil die Soldaten den Gehorsam verweigerten, konnte er auch kein Kaiser mehr sein. Und das bedeutete auch die Entmachtung der beiden führenden Klassen, die den Kaiser und die Bismarckverfassung getragen hatten: Der Adel und das Großbürgertum. An ihre Stelle sollten nun die Arbeiter- und Soldatenräte als tragende Säulen in einer parlamentarischen Demokratie treten. Die Möglichkeit dieser Revolution hing also einzig und allein an der Frage der Aneignung der Gewaltmittel. Diese mussten der Militärführung und damit den sie stützenden Klassen enteignet und der Demokratie zugeeignet werden.
Der entscheidende Impuls des Kieler Aufstandes bestand gerade darin, die Gewalt der Militärdiktatur zu brechen, indem man ihre Führungsstellen durch Arbeiter- und Soldatenräte besetzte. Das war legitim und konnte doch nur eine Zwischenstation bis zum erfolgreichen Abschluss der Revolution sein, die in eine Konstitution eines legalen Gewaltmonopols unter republikanischer Kontrolle zu münden hatte. Danach wären die Arbeiter- und Soldatenräte wohl so etwas geworden wie Sachverständigenräte für das Alltagsleben der arbeitenden Bevölkerung (ist da nicht immer noch eine Leerstelle? Und stände es dem Land nicht gut zu Gesicht, etwa Wirtschaftsräte aufzubauen in denen nur Arbeiter und Konsumenten vertreten sind?). Praktisch hätte dies geheißen, das Militär aus allen zivilen Angelegenheiten zu entfernen und das Personal der Militär- und Polizeiführungen durch demokratisch zuverlässige Leute zu ersetzen. Das wäre die Revolution gewesen, das Militär durch ein demokratisches politisches System als Leitsystem der Gesellschaft abzulösen, kurz Macht statt Gewalt zu setzen.
Das entsprach dem gemeinsamen Willen von 80% der Wähler, die Anfang 1919 demokratische Parteien wählten. Es kam anders, weil die SPD zunächst eine konstitutionelle Demokratie nach britischem Vorbild anstrebte und danach eine repräsentative Demokratie mit einem starken Präsidenten – quasi als Ersatzkaiser. Dabei waren die Programme der SPD angefüllt mit Begriffen wie Sozialismus und soziale Gerechtigkeit. Das war es aber gar nicht, was die Bevölkerung im Sinn hatte. Sie wollte die Gewalt der Militärherrschaft loswerden, weil diese ihre Existenz bedrohte. Wie es danach weiter gehen konnte, das war tätig zu erstreiten. Ohne jedes Gespür für die Gewaltverhältnisse, deren Opfer die eigenen Parteigänger lange Zeit waren (und dann ja auch 14 Jahre später wieder wurden) und in hysterischer Reaktion auf die anstrengende Aufmüpfigkeit der Arbeiter ging die SPD ihren politischen Weg. Gefahren für das politische Konzept der SPD konnte sie nur bei den Revolutionären verorten. Damit stellte sich die SPD aber praktisch gegen die Revolution und an die Seite der Gegenrevolution. Sie verwandte alle Kraft darauf, die Arbeiterräte zu liquidieren, die Gewaltmittel den überkommenen Gewaltherrschern zurückzugeben und die als Spartakisten verächtlich gemachten Linken ermorden zu lassen. Nach außen stand sie danach glänzend da und besetzte sowohl im Reich, als auch in den Ländern alle wichtigen Spitzenpositionen. Zugleich war sie machtlos, weil sie die Gewaltmittel aus der Hand gegeben hatte. Und sie hatte ihre eigene Machtbasis als Arbeiterpartei zerstört, als sie die Revolution der Arbeiter gewaltsam niederschlug. Diejenigen, die sie zu diesem Zweck bestellte, republikfeindliche Soldatenhaufen, die sich euphemistisch als Freikorps selbst veredelten, hassten die Revolution wie die SPD. Oberst Reinhard, der Kommandeur der Garde-Kavallerie-Schützendivision, die später die Berliner Räte im Auftrag der SPD tausendfach hinmordete, sprach bereits an Weihnachten 1918 von einem „Sozialdemokratischen Hexenkessel“ in Berlin und bezeichnete die Regierung, der sie zu Diensten war als „Lumpengesindel“.
An der entscheidenden Frage: Revolution oder Gegenrevolution hing auch die Zukunft Deutschlands. Die Revolution bedeutete auch den rücksichtslosen Bruch mit der Kriegspolitik von 1914. Nur unter dieser Voraussetzung hätte ein revolutionäres Deutschland hoffen können, mit den Siegermächten glaubwürdig über einen Frieden des Ausgleichs verhandeln können. So aber musste sich die Republik von Weimar in Versailles wie das besiegte Kaiserreich behandeln lassen.
1933 wählten dann 60% antidemokratische Parteien. Die deutsche Rechte, Konservative, Liberale und Christen stimmen 1933 im Reichstag für die Wiedererrichtung Diktatur. Die „Spartakisten“ werden verfolgt, eingesperrt und ermordet. Im Kieler Institut für Weltwirtschaft beginnen die Planungen für sie Sicherung der Nahrungsmittelversorgung im Reich im Falle eines Krieges. Und so erklärt das Deutsche Reich 21 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges den Nachfolgekrieg, den Zweiten Weltkrieg.
Thomas Herrmann